SWR2 Aktuell, am Mikrofon Petra Weinberger, guten Abend, und das sind unsere Themen in der kommenden Viertelstunde. Versprechen in Kiew, die Ukraine und die Republik Moldau sollen den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommen. Die SED-Opferbeauftragte fordert leichteren Zugang zu Hilfen und Bundespräsident Steinmeier will in Kassel die Grenzen der Kunstfreiheit aufzeigen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte mit diesem Besuch lange gewartet, doch heute ist er in die Ukraine gereist, nicht alleine allerdings, sondern begleitet vom französischen Präsidenten Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Draghi kam er nach Kiew. Im Zug sind die drei Regierungschefs über Nacht gereist, im Gepäck ein Versprechen an die Ukraine. Niels Bula berichtet.
Deutschland sei für eine positive Entscheidung zu Gunsten der Ukraine, sagte Scholz. Der Kanzler will dem Land den Status als EU-Beitrittskandidaten zuerkennen. Man stehe als Europäer fest an der Seite der Ukraine, teilte Scholz nach dem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj mit. Er werde sich vor dem Europäischen Rat für die Ukraine stark machen. Beim Thema Waffenlieferungen äusserte sich Scholz dagegen zurückhaltender. Deutschland werde die Ukraine mit Lieferungen auch weiterhin unterstützen, solange das Land die Unterstützung benötige, so der Kanzler. Präsident Selenskyj bedankte sich für die Hilfe aus Deutschland, forderte jedoch weitere Waffen. Man erwarte vor allem schwere Waffen wie moderne Raketenwerfer und Raketenabwehrsysteme. Zusammen mit Frankreichs Präsident Macron, dem italienischen Regierungschef Draghi und dem rumänischen Präsident Iohannis ist Scholz nach Kiew gereist. Vor dem Treffen mit Selenskyj hatten die Staats- und Regierungschefs den Kiewer Vorort Irpin besucht. Dort hatten sich die Politiker ein Bild von der Zerstörung und möglichen Kriegsverbrechen der russischen Armee gemacht.
Was bedeutet der Besuch von Bundeskanzler Scholz ? Kam er zu spät oder doch noch rechtzeitig ? Was bedeutet das Versprechen der drei Regierungschefs für die Ukraine ? Zur Einschätzung dieses denkwürdigen Tages der Kommentar von Hauptstadtkorrespondent Georg Schwarte.
Putin, da sagte Kanzler Scholz an dem Tag, als alles begann, hat mit diesem Krieg einen schweren Fehler begangen. 113 blutige Tage später steht der Kanzler jetzt mittendrin, im schweren Fehler dieses Krieges, Irpin, jener Stadtteil von Kiew, wo Russen wüteten, mordeten, hinrichteten. Spätestens seit diesem Vormittag hat der Kanzler mit eigenen Augen gesehen, wie blutig der Fehler Putins wirklich ist. Er hat den Luftalarm gehört, die Sirenen, er stand an einem zerschossenen Auto, die Hand am Rahmen der zersplitterten Windschutzscheibe, während sie dem Kanzler erklärten, dass Russen hier eine Mutter und ihre Kinder in dem flüchtenden Fahrzeug erschossen, nur weil sie töten wollten. Diese Eindrücke werden nachwirken auch bei einem Kanzler, der sein Herz selten auf der Zunge trägt. Irpin, für Olaf Scholz ein wichtiges Mahnmal dafür, dass etwas zu tun sei, sagt er. Etwas ? Dieses Etwas ist längst beschrieben. Helfen um jeden Preis, Waffen liefern, um der Ukraine Verteidigung zu ermöglichen, den Ukrainern zurufen, Europa sieht euch nicht nur, ihr gehört dazu. Reiste Scholz spät, keine Frage, aber jetzt reist er eben nicht mehr als trotziger Zauderer aus Berlin, sondern als Kanzler der mächtigsten Nation der EU. Es war ein Besuch Europas im Kriegsgebiet. Die drei Gründungsmitglieder der EU sitzen nachts im Zug, um am Morgen danach Kiew auf die Schiene Richtung Europa zu setzen. Manchmal braucht Politik Symbole, weil die Menschen die Bilder brauchen, und manchmal helfen die Bilder vor Ort möglicherweise Menschen wie Olaf Scholz dabei zu erkennen, dass allein die Ankündigung schwerer Waffen die blutigen Fehler dieses Krieges nicht verhindert hat. Europa also reicht Kiew wohl die Hand, Macron auch als EU-Ratspräsident, Scholz als G7-Vorsitzender, sie versprechen Beistand, und es hat durchaus Gewicht, wenn die drei wirtschafts- und bevölkerungsstärksten europäischen Nationen Präsident Selenskyj zusagen, wir unterstützen euch als Beitrittskandidat zur EU. Wir wollen, dass ihr auf dem EU-Gipfel kommende Woche diesen Status erhaltet. So wird es kommen. Dass mit dem rumänischen Präsidenten Iohannis ein osteuropäischer Präsident mitreiste, auch das beendet keinen Krieg, aber es zeigt der mutigen Ukraine, wie die Zukunft aussehen könnte und wo sie liegt, in der geeinten EU, auch das eine unmissverständliche Botschaft Richtung Moskau. Auf einem Graffiti einer Ruinenmauer in Irpin war heute zu lesen "Macht Europa - keinen Krieg". Moskau wird das nicht stoppen, aber Europa hat die Macht, die Ukraine nicht allein Demokratie und Freiheit verteidigen zu lassen, egal, was am Abend von diesem denkwürdigen Tag übrigbleiben wird und sei es nur ein Kanzler, der verstanden hat, dass die Ukraine so schnell wie eben möglich in diese EU gehört.
Auf eine positive Resonanz stiess der Besuch in Kiew auch in Brüssel, konkret bei der NATO. Die Verteidigungsminister des Militärbündnisses haben sich dort getroffen. Einzelheiten dazu von Helga Schmidt.
Deutschland, Frankreich und Italien unterstützen die Ukraine seit langem intensiv, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, aber nun noch hinzufahren, sei ein wichtiges Zeichen der Solidarität. "Ich begrüsse, dass die Spitzen von NATO-Ländern die Ukraine besuchen und sich mit Präsident Selenskyj treffen und dass sie sich die Gräueltaten und die Folgen des Krieges angucken. Es ist wichtig, so Solidarität zu zeigen." Auch für das eigene Bündnisgebiet zieht die NATO Konsequenzen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat bei den osteuropäischen Mitgliedsländern Sorgen ausgelöst und die Forderung nach Aufrüstung laut werden lassen. Mehr Abschreckung, mehr Soldaten und auch mehr Waffen an die Ostgrenze, darüber herrscht Einigkeit im Bündnis. Mehrere Länder haben sich schon bereit erklärt, ihre Präsenz im Osten der Allianz zu verstärken, berichtete Stoltenberg nach den Beratungen. Die Stärkung von Verteidigung und Abschreckung sei wichtig für die Sicherheit. Deutschland hat als erstes Land den Vorstoss gemacht. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht will die schon vorhandenen Kampftruppen in Litauen, die die Bundeswehr leitet, noch einmal deutlich ausbauen. Sie spricht von einer vierstelligen Zahl zusätzlicher Soldaten der Bundeswehr, die so ausgebildet und vorbereitet werden sollen, dass sie schnell nach Litauen verlegt werden können. "Wir sind bereit als Deutschland eine solche multinationale Kampftruppenbrigade anzuführen und uns da auch intensiv daran zu beteiligen. Das ist wichtig, um deutlich zu machen, auch dieser Bereich ist nicht ohne Gefahr." Die NATO-Spitze begrüsst den deutschen Vorschlag. Er wird als strategisch wichtig eingeschätzt, weil der Einsatzort Litauen an die russische Exklave Kaliningrad grenzt und auch an Weissrussland.
Helga Schmidt zum Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel. Seit genau einem Jahr ist Evelyn Zupke SED-Opferbeauftragte und die Erwartungen an die ehemalige Bürgerrechtlerin sind weiter gross, denn viele Opfer sind bisher bei der Anerkennung des Unrechts gescheitert. Viele haben bislang keine Entschädigung bekommen, sagt Zupke, weil die Regelungen zu kompliziert und zu lückenhaft sind. Um das klarzumachen, hat sie ein konkretes Beispiel geschildert.
Alexander Wiegand darf man getrost einen Helden nennen. Der heute 81-Jährige verhalf Ende der 1960-er Jahre Menschen aus der ehemaligen DDR zur Flucht. Er brachte insgesamt 129 Landsleute in seinem Lastkraftwagen über die Grenze, erinnert sich Evelyn Zupke, die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. "Bis zu dem Tag, an dem Alexander Wiegand mit acht Flüchtlingen an Bord in der Tschechoslowakei erwischt wurde und er wurde verhaftet. Über vier Jahre musste er immer wieder Dunkelhaft, Folterung und sexuelle Übergriffe ertragen. Alexander Wiegand wurde in brutalster Weise Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft." Und dennoch Anspruch auf eine SED-Opferrente hat Alexander Wiegand nicht, denn das Gesetz gewährt nur Opfern Hilfe, die in der DDR in Gefängnissen sassen, Alexander Wiegand aber war in der Tschechoslowakei inhaftiert. Das Beispiel zeigt aus Sicht von Evelyn Zupke vor allem eines, nämlich wie lückenhaft die aktuelle Gesetzeslage ist. "Ich denke ebenso auch an die Zwangsausgesiedelten und ich denke beispielsweise auch an die Opfer von Staatszwangsdoping. Das sind nur Beispiele für Opfergruppen, die mit unseren heutigen Gesetzen nur geringe oder teils keine Aussichten auf Rehabilitierung und Unterstützung haben." Bei der Vorstellung ihres ersten Jahresberichts sprach Evelyn Zupke von einer Gerechtigkeitslücke. Viel zu viele Opfer der SED-Diktatur hätten auch über 30 Jahre nach der Wende noch immer keine Aussicht auf Anerkennung und finanzielle Unterstützung, oft auch ehemalige Inhaftierte aus DDR-Gefängnissen nicht. 250'000 Menschen sassen nach Angaben von Zupke in der DDR in politischer Haft. Doch nur 80'000 von ihnen bekämen derzeit eine SED-Opferrente, die bei monatlich 330 Euro liegt. Die Verfahren für eine Anerkennung dauerten manchmal bis zu 12 Jahre. Oft stellten die Behörden dabei die Glaubwürdigkeit der Betroffenen in Frage. Fast jedes zweite Opfer der SED-Diktatur lebe heute an der Armutsgrenze. So wie es jetzt ist, könne es daher nicht weitergehen, so Zupke. Die Bundesbeauftragte schlug vor, die Gesetzeslage zu vereinfachen. "Vorbild ist für mich die Regelung, die der Bundestag 2012 für die durch Auslandseinsätze körperlich und psychisch geschädigten Soldaten eingeführt hat. Die Regelung enthält auch eine Vermutungsregelung. Diese ist jedoch um einen Katalog an Erkrankungen und eine Übersicht an möglichen schädigenden Ereignissen ergänzt. Wenn der Betroffene ein schädigendes Ereignis nachweisen kann, sind keine weiteren Hürden mehr zu überwinden. Eine solche vereinfachte Regelung brauchen wir auch für die SED-Opfer." Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur sei nicht allein eine ostdeutsche Aufgabe, so Zupke weiter, sondern eine gesamtdeutsche. Auch das zeige das Beispiel des Fluchthelfers Alexander Wiegand, der stammt aus Mülheim an der Ruhr.
Hauptstadtkorrespondent André Seiffert über den Jahresbericht der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur.
(Weitere Themen zum Selbsthören: EU Kommission verschärft Kodex zur Desinformation / Bundespräsident Steinmeier zum Antisemtismus-Streit bei der Documenta in Kassel)